Familie, Tod und Vergebung

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Ein Todesfall in der Familie

Die Nachricht über den Tod meines Stiefvaters überachte mir mein 16 jähriger Sohn. Tatsächlich hatten es weder meine Mutter noch meine Schwester für notwendig erachtet, mich persönlich anzurufen.

Möglicher Weise lag es daran, dass ich den Kontakt vor über einem Jahr abgebrochen hatte? Aber trotzdem: So eine Nachricht lässt man keinen Teenager überbringen. Nun gut, ich lasse es mal stehen. So für sich, als eigene Geschichte.

Mein Sohn war geschockt, er liebte seinen Großvater und hatte nie Probleme mit ihm (oder der restlichen Familie). Schließlich war nur ich das “schwarze Schaf” der Familie.

 

Wie reagiert man als Mutter in so einem Fall?

Ich nahm meinen Sohn in den Arm, atmete tief durch und fragte ihn, wie es ihm geht. Ihm ging es nicht gut. Er war traurig und betroffen, aber dennoch gefasst. Genau so gefasst wie ich, denn in den nächsten dreißig Minuten sollte er von seinem Vater in die Sommerferien abgeholt werden.

Ich funktionierte und ging meine Liste durch:

Willst Du zu Hause bleiben? Soll ich Deinen Vater informieren? Oder wollen wir gemeinsam darüber sprechen?

Nein, Junior war gefasst und klar: Er wollte zum Vater, er wollte es ihm selbst sagen und er kam zurecht damit…

Es war nicht der erste Todesfall in der Familie. Zwei Jahre zuvor war seine Großtante gestorben, ein Jahr vorher der Partner seiner Großtante. Der Tod gehörte zum Leben dazu. Mein Sohn hatte es begriffen.

 

Allein zu Hause, wenn die Trauer ausbleibt


Ich blieb allein zu Hause. Mein Sohn war abgeholt worden und plötzlich wurde alles still.

Was war geschehen? Was fühlte ich? Was sollte ich fühlen?

Zunächst fühlte ich gar nichts. Ich funktionierte.

Ich schrieb allen Menschen, die meinen Stiefvater kannten, an. Ich informierte gemeinsame Freunde über dessen Tod und postete sogar einen Beitrag auf Facebook. Mir war klar: Ich würde es erst einmal verstehen und verarbeiten müssen um damit richtig umzugehen.

Sie fragen sich sicher, wie herzlos ich dabei sein konnte? Das hatte seine Gründe, warum ich so tickte und das werden Sie gleich lesen. Denn das Verhältnis zu meinem Stiefvater war definitiv alles andere als gut.

 

Wenn die Vergangenheit gleichzeitig zur Gegenwart und zur Zukunft wird

Manche Menschen gehen einmal durch das Dunkel, andere gehen öfter durch solche Phasen.

Meine Kindheit war geprägt von vielen dunklen Momenten. Die meisten davon wurden verursacht durch meinen Stiefvater. Wenn er Alkohol trank, wurde er gewalttätig. Und ich wuchs seit meinem achten Lebensjahr mit regelmäßiger Angst auf. Jahre lang machten wir diese Gänge durch die Hölle durch. Es hörte erst auf, als meine Schwester zum Studium weg zog. Der Zusammenhang war mir nie klar, auch heute nicht. Aber es war so.

 

Oft wünschte ich diesem Mann, er möge tot umfallen oder Jahrzehnte lang leiden, für alles, was er uns antat.

Physische Gewalt erlitten wir nie. Aber psychische, die gab es immer wieder. Von Drohungen, uns alle umzubringen, bis hin zu Momenten, in denen er mit der Faust in die Wand schlug und seiner Kraft damit Ausdruck verlieh. Seine Zerstörungswut ergoss sich meistens über den Besitz meiner Schwester oder unsere Wohnzimmer-Einrichtung.

Ich hatte Schuldgefühle, weil es mich in der Art nie getroffen hatte, weil ich meine Schwester nicht retten konnte, weil sie sich nicht von ihrer kleinen Schwester helfen lies, weil weil weil… . Es gab so viele “weils”.  Meine Schuld war groß.

Und wurde später in der Familie noch größer, weil ich ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte.

 

Warum verlässt Du ihn nicht?

Nichts war sicher, nirgends war es zu Hause sicher.

Eines Tages hatten meine Mutter, meine Schwester und ich uns im Schlafzimmer eingesperrt, während mein Stiefvater vor der Tür wütete, an die Tür schlug und wieder einmal drohte, uns alle umzubringen. Ich war neun Jahre alt, glaube ich. Und als wir zu dritt auf dem Bett saßen, kein Telefon in der Nähe war, wir niemanden um Hilfe rufen konnten und ich abgrundtiefe Angst verspürte, stellte ich die Frage der Fragen:

“Mama, warum verlässt Du ihn nicht?”

Es war doch eigentlich ganz einfach, den Mann, der einen bedrohte, zu verlassen. Noch dazu in Deutschland und umso mehr, wenn die Frau auch diejenige war, die in die Arbeit ging und das Geld nach Hause brachte, während der Mann, der freischaffender Künstler war, nur manchmal etwas verdiente.

Warum also verließ meine Mutter diesen Mann, der uns regelmäßig bedrohte, nicht und brachte uns alle damit in Sicherheit?

Ich wollte doch einfach nur Kind sein und beschützt werden…

Die Antwort meiner Mutter war es dann auch, die mein zukünftiges Leben bestimmte:

“Weil ich Angst habe, alleine zu sein!”

In diesem Moment war mir bewusst, dass ich keinen Schutz von den Erwachsenen erhalten würde. Ich entschied: Ich werde für mich selbst sorgen und mich selbst schützen. Ich tat es auch: Viele Male nach diesem Abend war ich auch diejenige, die bei ähnlichen Eskalationen die Polizei anrief. Denn nicht einmal die Nachbarn taten etwas.

 

Das Leben ist kein Wunschkonzert – Felsenstürmer

Als erwachsene Frau trug ich viele Jahrzehnte die Geister der Vergangenheit mit mir herum. Die Felsen, die ich erklimmen durfte, waren immens.

Der Versuch, mich in die Familie zu integrieren und gleichzeitig meine Autonomie und den gesunden Abstand zu wahren, war zum Scheitern verurteilt. Ich wurde nicht nur zum schwarzen Schaf der Familie, sondern auch die egoistische Tochter, die “nur an sich dachte”. War ich vielleicht Narzisstin? Ein gewisses Maß an Narzissmus wurde mir tatsächlich zu eigen. Aber weit nicht so viel, dass es krankhaft wurde, bestätigte mir einmal eine Therapeutin, als ich ihr meine Befürchtung mitteilte.

 

Ohne Therapie geht es nicht

Therapien, brauchte ich viele, denn ich erlebte zwei Zusammenbrüche, zwei Burnouts, viele Depressionen. Ob meine Familie das alles realisierte, weiß ich nicht. Als ich nach meinem zweiten Burnout in die Reha ging, meinte meine Mutter, ich würde auf Krankenkassenkosten fünf Wochen Urlaub machen.

Ich habe vieles mitgenommen: Innere-Kind-Arbeit, Hypnose, Körperarbeit, Ernährungsumstellung, Coaching-Ausbildung, Sport, Geistheilung, Rückführungen, Aromatherapien, Chakrenarbeit, Meditationen, Nummerologie, viele Bücher und noch viele andere unterschiedliche Therapie-Methoden.

Jede dieser Anwendungen und Methoden brachten mich Schritt für Schritt weiter in meiner Entwicklung. Ich verstand mehr, ich kombinierte, erfasste Zusammenhänge und beschloss im letzten Jahr den Kontakt zu meinen Eltern und meine Schwester ein letztes Mal abzubrechen, als ich immer wieder Rückschritte erlebte. Sei es durch Intrigen, Unwissenheit, Ignoranz oder Naivität aller beteiligten Familienmitglieder.

Ich schrieb Horror-Kurzgeschichten, die veröffentlicht wurden und verarbeitete damit meine Alpträume, die mich heimsuchten.

 

Wenn Ruhe und Tod die Einsicht bringen

Ich habe so oft mit Therapeuten über Vergebung gesprochen. Wir diskutierten darüber, die Vergangenheit da zu lassen, wo sie ist.

Ich habe versucht, zu vergessen, zu ignorieren, anzunehmen, zu lieben, zu hassen, wütend zu sein und noch vieles mehr. “Gehen Sie ins Gefühl” hieß es immer wieder…

Aber nichts von alledem hat mich dahin gebracht, wo ich plötzlich durch den Tod meines Stiefvaters hinkam: In die Vergebung und darin, endlich zu verstehen, warum ich das alles erleben musste und durfte.

 

Es gibt den Spruch “Wir suchen uns unsere Familie nicht aus”

Dieser Spruch könnte nicht falscher sein. Denn mit all meinem Wissen und neuen Kenntnissen ist mir gerade auch im letzten Jahr klar geworden, dass ich mir diese Familie bewusst ausgesucht habe. Wer sich mit Nummerologie befasst, wird mich hier verstehen.

Ich habe mir diese Zeit, diese Umgebung und diese Familie ausgesucht, weil ich alle diese Erlebnisse gebraucht habe um dahin zu kommen, wo ich heute bin.

Mit allen erlebten Erfahrungen verstehe ich nun, wohin uns Depressionen führen können, wie sie sich anfühlen und was sie mit uns machen. Ich habe dadurch auch verstanden, dass mein Stiefvater während meiner Kindheit ebenso an Depressionen gelitten haben muss, nur mit dem Unterschied, dass ihm niemand geholfen hat.

Ich verstehe heute, dass er sich in den Alkohol flüchtete, um seine Ängste, Wut und Trauer nicht mehr spüren zu müssen. Es war seine Flucht aus seiner Realität.

Mein Fluch, den ich als Kind ihm gegenüber ausgesprochen hatte, hat ihn vor über 20 Jahren ereilt: Seine Gesundheit wurde immer schlechter, er konnte seiner Arbeit als Künstler nicht mehr nachgehen, baute sowohl körperlich als auch geistig ab. Die letzten Jahre mussten für ihn die Hölle gewesen sein. Er war nur noch lebendiges Fleisch mit Gebrechen, Schmerzen, Krankheiten und ohne Freuden.

Als ich von seinem Tod erfuhr, kamen bei mir nach vielen Stunden endlich Mitgefühl und auch der eine besondere Gedanke, der die Vergebung einleitete: Er hat alles gebüßt, hoffentlich erfährt er jetzt die Liebe, die er in den letzten Jahrzehnten gesucht hatte.

 

Vergebung kommt einfach…

 

Ich kann gar nicht sagen, in wie vielen Sitzungen ich über das Thema Vergebung gesprochen habe. Aber sie kam nicht. Sie wollte mich nicht erreichen.

Aber als mein Stiefvater tot war, kam die Erkenntnis: Auch wenn er nie um Verzeihung gebeten hatte für all das, was er uns angetan hatte, so hat er versucht, zu Lebzeiten mir auf seine Weise “Entschuldigung” zu sagen:

Er war der einzige in meiner Familie, der meine Kurzgeschichten las und mich dazu anspornte, mit dem Schreiben weiter zu machen.

Er war der Einzige. Bis heute.

 

Wenn wir also nach Vergebung suchen, dann ist es oft so, dass wir sie manchmal einfach nicht fühlen können, weil die Zeit nicht reif ist.

Heute kann ich sagen, ich vergebe meinem Stiefvater und hoffe, dass er als Teil der universellen Energie ab jetzt die Liebe erfährt, wie er sie zu Lebzeiten nicht erfahren durfte.

Er hatte mich gebeten, mit dem Schreiben weiter zu machen. Das werde ich auch. Und mein erster Roman ist endlich soweit, fertiggeschrieben zu werden. Für ihn und für meinen Sohn.

 

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2 Kommentare
  1. Rüdiger Heinrich
    Rüdiger Heinrich says:

    Auch wenn ich keine brennende Mama bin, und auch keine Gewalt in meiner Kindheit erfahren musste, kann ich die wiedersprüchlichen Gefühle im Andenken an einen Verstorbenen gut nachvollziehen. Gottseidank gibt es bei mir und hoffentlich auch bei allen anderen, einen Mechanismus im Gehirn der in der Rückschau das schlechte ausblendet und zum Guten verklärt. Ein Hoch auf das Alter und seine Weisheit.
    Sehr schön geschrieben. Danke dafür.
    LG Rüdiger

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    • Deborah Bichlmeier
      Deborah Bichlmeier says:

      Lieber Rüdiger, recht herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Ich denke, dass es vielen Menschen so ähnlich geht, die in ihrer Kindheit oder auch als Erwachsene im eigenen Haushalt Gewalt durch ein Elternteil, Familienmitglied oder einen Partner erfahren haben.
      2018 waren laut Statista 114.393 Frauen und 26.000 Männer Opfer häuslicher Gewalt in Deutschland, Tendenz steigend. Wobei hier eine Dunkelziffer nicht berücksichtigt wird: Nämlich alle Partner/Kinder etc., die keine Anzeige erstatten und die Gewalt “ertragen”. Die Gründe mögen unterschiedlich sein: Aus Scham, Schuld, Angst oder noch viele Andere. Die Folgen sind alle die gleichen. Was das Thema Vergebung angeht, so sagte Ghandi einst: “Ich glaube, dass Gewaltlosigkeit der Gewalt himmelhoch überlegen ist, dass Vergebung männlicher ist als Vergeltung.” In der Tat braucht es für Vergebung so viel mehr als den Kopf und die körperliche Kraft…

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